Sommer in Sao Paulo
Ein Essay über das Leben im Jahr 2020
Für meinen Job bin ich mal wieder verreist. Zwei Monate in Sao Paulo, einer Stadt in der ich niemanden kenne. Hund und Laufpartner sind zu Hause geblieben, sodass ich meinen Lieblingssport alleine ausüben muss, aber ich lasse mich nicht gehen. Gleich am ersten Abend in der neuen Umgebung sehe ich mir im Internet ein paar geeignete Strecken an, um die Stadt beim Laufen zu erkunden. Am anderen morgen höre ich beim Joggen einen Radiosender der mir die aktuellen Lieblingssongs meiner Freunde vorspielt. Der Algorithmus des Senders hat die Wiedergabeleiste aus dem Abgleich meines quantifizierten Selbst mit den Daten meiner Freunde erstellt. Die Mischung aus soliden Electrobeats von 2010 mit den neuesten Rock Sounds ist voller Energie und spornt mich total an. Die von meiner Armbanduhr gemessenen Daten über meinen Lauf schaue ich mir nicht an, ich möchte mich hier in Sao Paulo ja nur ein wenig bewegen. Meine Freunde zu Hause sehen, dass ich trotz neuer Umgebung nicht nachlässig geworden bin und kommentieren meinen Lauf im Fitnessportal anerkennend.
Familie und Hobbys waren mir schon immer wichtiger als Karriere zu machen. Deshalb bin ich froh, dass ich mit Siri aus meinem Smartphone trotzdem eine persönliche Assistentin habe. Sie weiß alles was wichtig für mich ist und unterstützt mich so gut sie kann. Jetzt, nach drei Tagen in Sao Paulo hat Siri mein Bewegungsprofil ausgewertet und weiß wo ich wohne und wo ich arbeite. Mit diesem Wissen hat sich mich gleich am vierten Tag davor bewahrt zu spät zur Arbeit zu kommen. An diesem Tag ist die U-Bahn mit der ich üblicherweise zu Arbeit fahre nämlich gesperrt und der Ersatzverkehr nimmt ein halbe Stunde mehr Fahrtzeit in Anspruch. Damit ich dennoch rechtzeitig zu meinem Kundentermin komme hat mich Siri früher aufgeweckt als beim Einschlafen vorgesehen. So kann ich in Ruhe Duschen und den Tag ohne Stress mit einem Frühstück beginnen.
Am fünften Tag fühle ich mich unwohl, vermutlich war ich beim Probieren der lokalen Spezialitäten auf dem Markt etwas zu experimentierfreudig. Dass ich auf einen ortsansässigen Arzt verzichten und auf das Urteil meines Hausarztes zählen kann, stimmt mich zuversichtlich. Deshalb stelle ich mich vor den Badezimmerspiegel in meinem 4 Sterne Hotel. Der darin integrierte medizinische Tricoder erfasst meine Vitalitätsparameter und übermittelt die Werte an mein Smartphone. Siri schickt die Daten an meinen Hausarzt zur Ansicht welcher nach kurzer Begutachtung die Zustellung eines geeigneten Medikament veranlasst. Bereits am nächten Tage fühle ich mich schon wieder hervorragend und gehe laufen.
Mein beliebtestes Gadget im Sommer 2020 ist das ChillBand. Es misst mein Stresslevel und belohnt mich mit Chill-Punkten wenn ich es schaffe mich regelmäßig zu entspannen. Deshalb gehe ich jetzt wieder langsamer und mache hin und wieder eine Pause um tief durchzuatmen. Stressprobleme sind mittlerweile die Hauptursache für krankheitsbedingten Arbeitsausfall. Ich sammle Chill-Punkte jedoch nicht um meinen Arbeitgeber oder meine Krankenkasse zu entlasten, sondern weil es sich verdammt gut anfühlt. Außer mir haben das bereits viele andere bemerkt, weshalb das Chillband im Sommer 2020 der letzte Schrei ist.
Am sechsten Tag lese ich auf Facebook eine Nachricht die ich niemals für möglich gehalten hätte. Juli Zeh, Chefkritikerin der Selbstquantifizierung, hat sich ein ChillBand gekauft um sich von einer Stressattacke zu erholen. Dass der Verlag die gesamte Restauflage ihre Buchs Corpus Delicti verbrannt hat, hat der Autorin kräftig zugesetzt. Bücherverbrennungen sind im Jahr 2020 eher unüblich aber da sich ihr Roman nicht verkauft und Lagerplätze teuer sind, blieb dem Verlag nichts anderes übrig als die Ladenhüter in Ökostrom zu verwandeln. Dass das Internet nichts vergisst, ist jetzt Frau Zehs letzte Hoffnung. Corpus Delicti wird dort nach wie vor zu einem Sonderpreis als Download angeboten.
In Sao Paulo wie auch im Rest der Welt, ist die Quantifizierung längst aus der Nische herausgewachsen. Dennoch wird auch im Jahr 2020 die Individualität groß geschrieben und nicht alle wollen sich das Leben mit moderner Technik vereinfachen lassen. Deshalb gibt es immer noch Menschen, die mit den smarten Funktionen ihres Phones nichts anzufangen wissen und das nächste große Ding nach Facebook genauso schmähen wie sie damals Facebook geschmäht haben. Scheinbar ist das ihnen lieber so und ich denke sie kommen ganz gut damit zurecht. An meinem siebten Tag in Sao Paulo fühle ich mich sehr wohl mit meinem quantifizierten Selbst und die ohne ein solches auch.
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ChillBand – tolle Idee!
Doch ich tippe darauf, dass diese Vision in acht Jahren schon für viele Menschen Wirklichkeit sein wird. Und wenn du dann immer noch ein Early Adaptor bist, dann wird dein Tag noch durch viel mehr Gadgets unterstützt werden.